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AutorenbildMarkus Hörrlein

Menschen mit Worten vernichten

Am 13. Dezember 1918 erschien Karl Kraus’ Weltkriegs-Drama „Die letzten Tage der Menschheit“. Für die Bühne war das Stück zu komplex. Doch es entfaltet bis heute grosse Kraft – die vor allem jene spürten, die ins Visier des Autors gerieten.



Wie der Autor glauben konnte, mit einem Theaterstück Wirkung zu erzielen, das zu komplex für jede Bühne des Planeten war, wird für immer sein Geheimnis bleiben. Und folgerichtig sind „Die letzten Tage der Menschheit“ nie in Gänze zur Aufführung gelangt, keinem Regisseur oder Ensemble war es möglich, den Stoff in den Griff zu bekommen. 220 Szenen mit ungezählten Schauspielern wären zu bewältigen – wer auch nur annähernd professionell denkt, wird sich an so etwas nicht heranwagen.

 

Das Wunder bei dem Stück, das am 13. Dezember 1918 erstmalig erschien, ist, dass die Wirkung trotzdem bis heute nachhallt. Kein Erich Maria Remarque und kein Ernst Jünger schilderte das Grauen des Ersten Weltkriegs mit einer derartigen Schonungslosigkeit wie  der Wiener Karl Kraus (1874–1936). Bei ihm prallte der ganze Irrsinn in einer Art riesigen Kollage aufeinander: Soldaten, die Gegner zu Krüppeln schossen; Kaiser, und Offiziere, die zwar vom Geschehen an der Front so viel Ahnung hatten wie eine Katze vom Bellen, aber trotzdem Entscheidungen quasi nebenher fällten, die unzählige Menschen das Leben kosteten.

 

Und dann waren da natürlich noch die gewissenlosen Journalisten, denen alles nicht blutrünstig und martialisch genug zugehen konnte – und die hinterher selbstredend nur in bester Absicht versucht hatten, ihrer Pflicht als Berichterstatter nachzukommen. In der Hauptsache besteht das Werk aus Originalzitaten, aber der Autor wob auch fiktive Kommentatoren ein, um das Panoptikum des Schreckens komplett zu machen; deshalb entfaltet die Schrift bis heute ihre ganze Wucht, wenn man sie liest. Wahrscheinlich war es das, worauf der Autor spekulierte: Seine Formulierungskunst, die er in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ auslebte – ein Blatt, unter dessen aufklärerischem Namen bald nur noch einer publizierte, nämlich Karl Kraus selbst.

 

Ein gebürtiger Wiener war er nicht. Kraus kam 1874 in Böhmen zur Welt, als neuntes Kind eines überaus erfolgreichen jüdischen Papierfabrikanten. Damit gehörte der Nachwuchs dem Großbürgertum an, das zu dieser Zeit in einer bis dahin unbekannten finanziellen Sicherheit lebte. Schon 1877 zog die Familie nach Wien, der Sohn besuchte ein berühmtes Gymnasium um nahm dann – allerdings ohne große Ambitionen – ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Entsprechend schloss er es nicht ab, zu sehr reizte ihn das Schreiben, vor allem Theaterkritiken. Angst vor großen Namen hatte er nicht: Im April 1892 erschien eine Rezension von Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ als sein erster journalistischer Beitrag in der „Wiener Literaturzeitung.“

 

Doch der Autor wollte mehr, viel mehr, was bei seinem Talent auch verständlich war. Seine Götter hießen unter anderem Shakespeare, Goethe und Nestroy, und hier kündigt sich ein Motiv an, das ihn sein Leben lang begleiten sollte: Karl Kraus war jemand, der Urteile sprach – und zwar welche von der Art, die nicht den geringsten Zweifel zuließen. Da gab es die Guten und die Bösen, und das Böse musste mit allen Mitteln bekämpft werden. Keine Gnade, kein Vergeben; da war nichts, was sich noch irgendwie hätte verhandeln lassen.

 

Seine Zeitschrift „Die Fackel“ gründete er 1899, also mit 25 Jahren, das muss man sich erst einmal trauen. Doch schon früh ging es mit den Streitereien los. Geradezu legendär war Kraus’ Ausfall gegen die Prosa Heinrich Heines (1797–1853): Der Wiener warf Deutschlands größtem Satiriker des 19. Jahrhunderts vor, seine Aufenthalte in Frankreich hätten ihn dazu getrieben, die deutsche Sprache zu verschandeln. Französisch sei ein Konstrukt, das sich jedem an den Hals werfe – Kraus benutze deftigere Worte – während das edle Deutsch nur denjenigen belohne, der sich mit ihm abplage, dann dafür aber umso mehr.


Zu Zeiten des Ersten Weltkrieges ist bei dem Autor ein deutlicher Schwenk in der Perspektive zu verzeichnen: War er bis 1916 als Großbürgersohn doch im Zweifel kaisertreu gewesen, las man nun eine immer größere Sympathie für Liberale und Sozialdemokraten in seinen Texten. Vermutlich konnte er den gesellschaftlichen Eliten nicht verzeihen, das Schlachten in Europa zugelassen zu haben. Die „Fackel“ wurde zensiert, aber nicht so, dass jede scharfe Formulierung hätte getilgt werden können – dafür hätte man sie ohnehin verbieten müssen.

 

Die größte Zeit des Mannes mit der scharf geschliffenen Brille begann, als das große Sterben vorbei war. Selten dominierte eine Persönlichkeit derartig den ganzen literarischen Betrieb wie Kraus im Wien der 1920er-Jahre. Zu seinen „Vorlesungen“, die eher zu Ein-Mann-Inszenierungen gerieten, fand sich alles ein, was sich in der österreichischen Hauptstadt zum Geistesadel zählte, und viele andere kamen ebenfalls.

 

Der spätere Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti, damals ein Twen, hat den zweiten Band seiner Autobiografie nicht umsonst „Die Fackel im Ohr“ genannt. Gewiss ein kritischer Kopf, konnte auch Canetti nicht umhin, zuzugeben, von der Energie Mal für Mal überrollt worden zu sein, mit der der Mann vor dem Auditorium Heuchler, Kriegsgewinnler und ignorante Herrschende mit sprachlichen Blitzschlägen erledigte.

 

Ja, der Herr der „Fackel“ leuchtete einen Weg, aber wie so oft bei Moralisten hatte dies eine Rückseite. Wer ihm nicht folgte, der war verloren, für den Mann, für die Sache, für die ganze Welt. Gut 40 Jahren, nachdem er ihm verfallen war, unterzog Canetti sein ehemaliges Idol einer Revision. Er kam zu dem Ergebnis, er habe den Meister irgendwann stürzen müssen.

 

Kraus’ größte Gabe, das ehrliche Erschrecken über die Zustände, die er um sich herum vorfand, hätten zu einer Sprache geführt, die keinerlei Spielraum mehr zugelassen habe. Quader für Quader habe der Autor eine Mauer errichtet, die er Stück für Stück gebaut habe, so lange wie ihm etwas eingefallen sei – und eingefallen sei ihm viel. Dies sei bei Kraus das einzige Strukturprinzip gewesen. Wer ein wenig in „Die letzten Tage der Menschheit“ hineinliest, wird dem zustimmen.

 

Viele Experten handeln Karl Kraus als Aphoristiker. Dem antiken Sinn nach ist das jemand, der sich durch seine Sprache abgrenzt. Die Reihe der wundervollen Aussprüche von ihm ist zu groß, um sie sie hier auch nur ansatzweise zu zitieren: „Es gibt Menschen, die tragen es einem Bettler bis zu ihrem Lebensende nach, ihm kein Geld in den Hut geworfen zu haben.“ Daran ist alles verdreht, gespiegelt und schön. Und es leuchtet ein, warum so viele Menschen den Erschaffer solcher Zeilen für ein Genie halten.

 

Karl Kraus starb 1936. Zwei Jahre später sollten die Nationalsozialisten sich Österreich einverleiben, es folgte ein Massensterben, das belegte: Der Erste Weltkrieg waren eben nicht die letzten Tage der Menschheit, schlimmere sollten folgen. Doch das durch seine Prosa zu verhindern, war auch diesem Autor nicht gegeben.

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