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AutorenbildMarkus Hörrlein

Der vierte Weltkrieg ist längst im Gange

Aktualisiert: 19. Dez. 2023

In Mexiko brachten die Wahlen vom 6. Juli 1997 einen politischen Erdrutsch: Erstmals seit fast siebzig Jahren verlor die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus, die Kontrolle über einige Bundesstaaten und das Bürgermeisteramt von Mexiko-Stadt, wo der Chef der (sozialdemokratisch orientierten) Demokratischen Revolutionspartei (PRD), Cuauhtémoc Cárdenas, zum Stadtoberhaupt gewählt wurde. Die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN hat in Chiapas keine Wahlempfehlung gegeben und sich in die Regenwaldregion von Lacandona zurückgezogen. Dort verfaßte der Sprecher der Bewegung, Subcomandante Marcos, eine geostrategische Analyse, die wir im folgenden dokumentieren.




„Der Krieg ist für den Staat von vitaler Bedeutung, er ist das Terrain, das über Leben und Tod entscheidet, der Weg, der ins Überleben oder in die Vernichtung führt. Es ist unerläßlich, ihn von Grund auf zu studieren.“(Sun Tse, „Die Kunst des Krieges“)

Der Neoliberalismus als globales System ist ein neuer Krieg zur Unterwerfung von Territorien. Das Ende des Dritten Weltkrieges, den man „kalter Krieg“ nannte, bedeutet nicht, daß die Welt die Bipolarität überwunden und zu einem stabilen Gleichgewicht unter dem wachsamen Auge der Sieger gefunden hätte. Am Ende dieses Krieges gab es zweifellos einen Besiegten (das sozialistische Lager), aber wer der Sieger war, läßt sich schon schwerer sagen. Westeuropa? Die Vereinigten Staaten? Japan? Oder alle zusammen?

Die Niederlage des „Reiches des Bösen“ öffnet neue Märkte, deren Eroberung einen neuen Weltkrieg eröffnet hat, den Vierten. Wie alle Kriege, so zwingt auch dieser die Nationalstaaten dazu, sich neu zu definieren; diese Neuordnung der Welt erinnert an die Zeiten der Eroberung Amerikas, Asiens und Ozeaniens. Eine seltsame Modernität, die rückwärts voranschreitet! Das zwanzigste Jahrhundert gleicht an seinem Ende mehr den Epochen der Barbarei als der klinisch-rationalen Zukunft, wie sie in Science-fiction- Romanen geschildert wird.

Riesige Gebiete, Reichtümer und vor allem qualifizierte Arbeitskräfte warten auf einen neuen Herren. Es gibt allerdings nur einen Platz für den Herren der Welt, aber viele Prätendenten. Daher spielt sich der neue Krieg dieses Mal zwischen Mächten ab, die sich alle dem „Reich des Guten“ zugehörig fühlen.

Während sich im Dritten Weltkrieg die Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf diversen Terrains und mit unterschiedlicher Intensität abspielte, stehen sich im Vierten Weltkrieg die großen Finanzzentren gegenüber, und zwar auf globaler Ebene und mit gewaltiger und anhaltender Intensität.

Der Krieg, den man zu Unrecht einen „kalten“ nannte, hatte immer wieder durchaus heiße Temperaturen erreicht: vom Katakombenkrieg der internationalen Spionagezentren bis zum „Krieg der Sterne“ von Reagans sogenannter Strategischer Verteidigungsinitiative; von der kubanischen Schweinebucht bis zum vietnamesischen Mekong-Delta; vom nuklearen Rüstungswettlauf bis zu den blutigen Staatsstreichen in Lateinamerika; von den drohenden Manövern der Nato-Truppen bis zu den CIA-Agenten in Bolivien, als Che Guevara ermordet wurde. Obwohl – oder auch weil – all diese Aktionen auf verschiedenen Schauplätzen spielten und durch das Auf und Ab der nuklearen Krise beeinflußt wurden, reichten sie aus, um den Sozialismus als Weltsystem zum Verglühen, als soziale Alternative zum Verschwinden zu bringen.


Im Dritten Weltkrieg hat sich gezeigt, wie vorteilhaft der „totale Krieg“ für den Sieger, also den Kapitalismus war. Doch das Szenario der Nachkriegszeit ist von neuen globalen Voraussetzungen gekennzeichnet: die enorme Erweiterung eines „Niemandslandes“ (durch den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Niedergang Osteuropas), die gleichzeitige Expansion gleich mehrerer Mächte (USA, die Europäische Union und Japan), die Krise der Weltwirtschaft und die neue technologische Revolution durch die Informatik.

Für diese ganze neue Welt und für das, was von der alten geblieben war, haben die dominierenden Vertreter des Kapitals ihre neue Kriegsstrategie entwickelt. Über die Finanzmärkte oktroyieren sie ihre Gesetze und Rezepte dem ganzen Planeten. Die „Globalisierung“ des neuen Krieges spiegelt die globalisierte Logik der Finanzmärkte wider. Die Nationalstaaten (und ihre Regierungen), die früheren Lenker der Volkswirtschaften, werden nun selber gelenkt, oder besser ferngelenkt. Zusätzlich profitiert die Logik der Märkte von der Durchlässigkeit, die weltweit durch die Telekommunikation auf allen gesellschaftlichen Ebenen entstanden ist und die alle sozialen Aktivitäten durchdrungen und sich unterworfen hat. Der total totale Weltkrieg ist endlich möglich!

Zu den ersten Opfer dieses neuen Krieges gehört der nationale Markt. Wie die Kugel, die, in einem gepanzerten Raum abgeschossen, als Querschläger auch den Schützen treffen kann, so bedroht der vom Neoliberalismus entfesselte Krieg auch diejenigen, die ihn entfesselt haben. Der nationale Markt etwa, eines der Fundamente der Macht im modernen kapitalistischen Staat, hat unter dem schweren Beschuß durch die globale Finanzwirtschaft keine Überlebenschance. Der neue internationale Kapitalismus hat die nationalen Kapitalismen völlig ausgeschaltet und die politische Macht restlos zersetzt. Es war ein derart brutaler Schlag, daß die Nationalstaaten nicht mehr in der Lage sind, die Interessen ihrer Bürger zu schützen.

Die wunderbare, übersichtlich ausstaffierte Schaufenstervitrine der „Neuen Weltordnung“, in der man die Siegestrophäen des „kalten Krieges“ ausstellte, ist durch die Explosion des Neoliberalismus zu Bruch gegangen. Der globalisierte Kapitalismus opfert dem nationalen Kapitalismus erbarmungslos all das, was ursprünglich seine Zukunft und historische Perspektive ermöglicht hatte. Unternehmen und Staaten fallen innerhalb von Minuten in sich zusammen, aber nicht unter dem Ansturm proletarischer Revolutionen, sondern unter dem gewaltigen Druck von Finanzzyklonen.

Der Sohn (Neoliberalismus) frißt den Vater (nationaler Kapitalismus) und liquidiert nebenbei auch noch die Stereotypen der alten kapitalistischen Rhetorik: In der Neuen Weltordnung gibt es keine Demokratie, keine Freiheit, keine Gleichheit, keine Brüderlichkeit. Die Welt am Ende des „kalten Krieges“ ist ein Schlachtfeld, und wie auf jedem Schlachtfeld herrscht das Chaos.

Gegen Ende des „kalten Krieges“ schuf der Kapitalismus ein neues horrendes Kriegsgerät: die Neutronenbombe. Die „Tugend“ dieser Waffe war ihre Fähigkeit, lediglich das Leben auszulöschen, Gebäude dagegen unversehrt zu lassen. Damit konnte man ganze Städte zerstören (sprich ihre Bewohner), ohne sie (unter hohen Kosten) wiederaufbauen zu müssen. Die „Irrationalität“ der Atombombe war durch die „Rationalität“ der Neutronenbombe abgelöst. Doch auch der Vierte Weltkrieg hat eine Wunderwaffe entwickelt: die Kapitalbombe.

Anders als die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, zerstört diese neoliberale Bombe nicht nur die Polis (sprich die Nation) und verbreitet unter ihren Bewohnern Tod, Elend und Schrecken; anders als die Neutronenbombe zerstört sie auch nicht nur „selektiv“. Nein, die neoliberale Bombe vermag auch zu reorganisieren; was sie attackiert, wird neu sortiert, wird zum Puzzleteil der globalisierten Wirtschaft. Ihr Zerstörungswerk hinterläßt keine rauchenden Trümmer, keine Leichenberge, sondern – zum Beispiel – ein verwandeltes Stadtviertel, das auf einmal zu einer Megapolis des planetaren Hypermarktes gehört, oder Arbeitskräfte, die sich den Erfordernissen des Weltarbeitsmarktes unterordnen müssen.

Die Europäische Union, eine vom Neoliberalismus hervorgebrachte Megapolis, bekommt ebenfalls die Folgen des Vierten Weltkrieges zu spüren. Die wirtschaftliche Globalisierung hat die Grenzen zwischen traditionell rivalisierenden Staaten hinweggefegt und die politische Union erzwungen. Der Weg von den Nationalstaaten zur europäischen Föderation wird von Ruinen gesäumt sein, zuallererst von den Ruinen der europäischen Zivilisation.


Die Megapolis-Struktur verbreitet sich über den ganzen Planeten und vor allem in den Freihandelszonen. So stellt das „Nordamerikanische Freihandelsabkommen“ Nafta zwischen Kanada, den USA und Mexiko nichts weiter dar als das Vorspiel zur Erfüllung eines alten Eroberungstraumes der USA: „Amerika den Amerikanern!“

Werden die Nationalstaaten in der Megapolis- Struktur aufgehen? Nein, oder nicht vollständig. Die Megapolis schließt sie teilweise mit ein, teilt ihnen neue Funktionen, neue Grenzen und neue Perspektiven zu. Ganze Länder werden zu Filialen des neoliberalen Megaunternehmens, das ganze Regionen und Nationen zum einen zerstört und entvölkert, zum anderen rekonstruiert und neu ordnet.

Während die Atombomben des Dritten Weltkrieges der Abschreckung, sprich der Einschüchterung und Erpressung dienten, erfüllen die Kapitalbomben einen anderen Zweck. Sie sind Angriffswaffen, die Gebiete (Nationalstaaten) erobern, die materiellen Grundlagen ihrer Souveränität zerstören und ihre Territorien qualitativ entvölkern sollen, sie zielen also auf die Ausgrenzung derjenigen, die innerhalb der neuen Marktwirtschaft keinen Nutzen erbringen (wie etwa die Indigenas). Aber gleichzeitig werden die Nationalstaaten gemäß der Marktlogik umorganisiert: Die neuen ökonomischen Modelle überlagern die vorhandenen sozialen Strukturen.

Die Welt der indigenen Völker ist voll von Beispielen, die diese Strategie illustrieren. Ian Chambers, Direktor der Zentralamerika-Abteilung der Weltarbeitsorganisation (ILO) hat erklärt, daß die indigene Weltbevölkerung – 300 Millionen Menschen – in Regionen lebt, in denen 60 Prozent der globalen natürlichen Ressourcen zu finden sind. So könne es „nicht erstaunen, daß zahlreiche Konflikte bezüglich Nutzung und Zukunft dieser Gebiete entstehen. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Erdöl und andere Bodenschätze) und der Tourismus sind die wichtigsten Industrien, welche in Amerika die Gebiete der Indigenas bedrohen.“1 Im Schlepptau dieser Investitionsprojekte kommen Umweltverschmutzung, Prostitution und Drogen.

Im Vierten Weltkrieg ist die Politik nicht mehr der Motor des Nationalstaates. Sie dient nur noch der Aufgabe, die Wirtschaft zu managen, indem die Politiker wie Unternehmer agieren.

Die neuen Herren der Welt müssen gar nicht mehr in den Regierungen Einfluß nehmen. Die „nationalen“ Regierungen führen für sie die Geschäfte. Die Neue Weltordnung, das ist die Vereinigung der ganzen Welt zu einem einzigen Markt. Die Staaten sind Abteilungen dieses Marktes, ihre Regierungen die regionalen Geschäftsführer. Wenn Länder sich regional zusammentun, ähnelt das eher einer Unternehmensfusion als einer politischen Föderation. Entsprechend gibt es in diesem gigantischen Hypermarkt denn auch die freie Zirkulation der Waren, nicht aber der Personen.

Wie jede unternehmerische (und militärische) Initiative, kann auch die wirtschaftliche Globalisierung mit einem einheitlichen Denkmodell aufwarten. Der „American Way of Life“, den die US-Army im Zweiten Weltkrieg nach Europa, in den sechziger Jahren nach Vietnam und vor wenigen Jahren an den Golf mitgenommen hat, verbreitet sich heute mittels der Kommunikationstechnologien über die ganze Erde. In diesem Vierten Weltkrieg werden also nicht nur die materiellen, sondern auch die historischen und kulturellen Grundlagen der Nationalstaaten zerstört.

Die reiche Vergangenheit der Indigenen in Amerika, die große Zivilisation Europas, die historische Weisheit der asiatischen Länder, der kulturelle Reichtum Afrikas und Ozeaniens sind heute dem Angriff durch den nordamerikanischen Lebensstil ausgesetzt. Der Neoliberalismus zerstört Nationen und Gruppen von Nationen und schmilzt sie zu einem, zum einzigen Modell zusammen.

Dieser Vierte Weltkrieg ist ein wahrhaft planetarer Krieg, der schlimmste und grausamste Krieg, und er wird vom Neoliberalismus gegen die ganze Menschheit geführt. Aber wie jeder Krieg kennt er Sieger und Besiegte, und Bruchstücke einer zerstörten Realität. Um das absurde Puzzle der neoliberalen Welt zusammenzufügen, fehlen uns viele Teilchen. Einige können wir zwischen den Ruinen finden, die dieser Krieg bereits hinterlassen hat. Und doch können wir mindestens sieben dieser Teilchen rekonstruieren und die Hoffnung damit verbinden, daß dieser Zusammenstoß nicht mit der Auslöschung der Menschheit endet. Sieben Teilchen, um das Weltpuzzle zu zeichnen, zu kolorieren, auszuschneiden und gemeinsam mit anderen zusammenzusetzen.



(1) Konzentration des Reichtums und Distribution der Armut

Figur 1 ist mit einem Währungssymbol versehen.

In der Geschichte der Menschheit gab es schon verschiedentlich soziale Modelle, die sich durch ihre umfassende Absurdität auszeichneten. Doch der Neoliberalismus ist diesbezüglich einsame Spitze; seine „Verteilung“ des gesellschaftlichen Reichtums ist doppelt absurd: Akkumulation des Reichtums in den Händen weniger – Akkumulation der Armut bei Abermillionen Menschen. Unrecht und Ungleichheit sind Markenzeichen unserer heutigen Welt. Der Planet Erde zählt fünf Milliarden Menschen. Davon genießen ganze fünfhundert Millionen einen gewissen Wohlstand, während viereinhalb Milliarden im Elend leben und sich irgendwie über Wasser halten. Das Vermögen der 358 Reichsten der Welt übersteigt das Jahreseinkommen von 45 Prozent der Ärmsten der Welt, also von etwa 2,6 Milliarden Personen.

Die fortschreitenden Erfolge der großen transnationalen Unternehmen sind nicht gleichbedeutend mit dem ökonomischen Fortschritt der entwickelten Länder. Im Gegenteil, je mehr die Finanzgiganten verdienen, desto größer wird die Armut auch in den sogenannt reichen Ländern. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und nirgends regt sich eine Gegenbewegung.

Mit dem Währungszeichen, das Sie gemalt haben, halten Sie das Symbol der wirtschaftlichen Macht in Händen. Jetzt können Sie es dollargrün anmalen. Den ekelerregenden Geruch nach Scheiße, Schlamm und Blut müssen Sie aushalten, er gehört zum Original.



(2) Die Globalisierung der Armut und der Ausbeutung

Figur 2 entsteht, indem man ein Dreieck zeichnet.

Eine der neoliberalen Lügen ist die Behauptung, das Wachstum der Unternehmen führe zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zu einer besseren Verteilung des Reichtums. Dem ist nicht so. Wie der Machtzuwachs eines Königs keineswegs auch seinen Untertanen mehr politische Macht verschafft, so bewirkt auch der Absolutismus des Finanzkapitals weder eine bessere Verteilung des Reichtums noch zusätzliche Arbeit. Die strukturellen Folgen sind vielmehr Armut, Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeitsplätze.

In den sechziger und siebziger Jahren gab es 200 Millionen Arme, die nach den Zahlen der Weltbank weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hatten. Anfang der neunziger Jahre war die Zahl auf zwei Milliarden gestiegen.

Mehr arme und verarmende Menschen, weniger Reiche und weniger Menschen mit Aussicht auf Wohlstand, das ist die Lehre aus dem ersten Teil des neoliberalen Puzzles. Um dieses absurde Resultat zu erzielen, „modernisiert“ das kapitalistische System die Produktion, den Umlauf und den Warenkonsum. Die informationstechnologische und die politische Revolution, die Megapolis auf den Ruinen der Nationalstaaten, bewirken eine neue soziale „Revolution“, die kaum mehr ist als eine Reorganisation der sozialen Kräfte und vor allem der Arbeitskraft.

Die Zahl der wirtschaftlich aktiven Menschen stieg weltweit zwischen 1960 und 1990 von 1,38 Milliarden auf 2,37 Milliarden. Mehr arbeitsfähige Leute also, die Reichtum schaffen könnten. Doch die „Neue Weltordnung“ verbannt sie in bestimmte Zonen und teilt ihnen im globalen Wirtschaftsplan eine präzis umrissene Funktion zu (oder eine Nichtfunktion: für die Arbeitslosen). Die aktive Weltbevölkerung hat sich in den letzten zwanzig Jahren sektoral grundlegend verlagert. Der Landwirtschafts- und Fischereisektor schrumpfte zwischen 1970 und 1990 von 22 auf 12 Prozent, der Industriesektor von 25 auf 22 Prozent, während zugleich der tertiäre Sektor (Handel, Transport, Banken und Dienstleistungen) von 46 auf 56 Prozent anwuchs. In den Entwicklungsländern nahm der tertiäre Sektor sogar von 40 auf 57 Prozent zu, währen die Beschäftigung im Agrarsektor von 30 auf 15 Prozent sank.2

Das bedeutet, daß mehr und mehr Menschen in Sektoren hoher Produktivität beschäftigt sind. Das neoliberale System ist eine Art Megapatron und konzipiert den Weltmarkt wie ein einziges Unternehmen, das es nach Kriterien der „Modernisierung“ managt. Doch die neoliberale „Modernität“ ähnelt weit mehr der bestialischen Geburtsphase des kapitalistischen Weltsystems als einem Modell utopischer „Rationalität“. Denn die „moderne“ Produktion basiert auch weiterhin auf der Arbeit von Kindern, Frauen und Immigranten. Von den weltweit 1,15 Milliarden Kindern sind mindestens 100 Millionen Straßenkinder, während 200 Millionen arbeiten müssen (bis zum Jahr 2000 werden es 400 Millionen sein, schätzen die Experten). Nicht nur im unterentwickelten Süden der Welt, auch im Norden müssen Tausende Kinder arbeiten, um das Einkommen ihrer Familie aufzubessern oder deren Überleben zu sichern. Und nach UNO-Angaben werden jedes Jahr eine Million Kinder auf den Sexmarkt geworfen.

Arbeitslosigkeit und bedrohte Arbeitsplätze sind weltweit eine Realität, und nichts spricht dafür, daß sich das ändern könnte. In den hochindustrialisierten OECD-Ländern ist die Arbeitslosigkeit von 1966 bis 1990 von 3,8 auf 6,3 Prozent angestiegen, in Europa sogar von 2,2 Prozent auf 6,4 Prozent. Der globale Markt hat viele Klein- und Mittelbetriebe zerstört, die mit dem Schwinden lokaler und regionaler Märkte gegen die transnationalen Giganten nicht mehr konkurrieren können. Damit verlieren Millionen ihre Arbeitsplätze. Auch hier das neoliberale Absurdum: Wachstum schafft nicht Arbeitsplätze, es schafft sie ab. Die UN spricht von der neuen Ära „arbeitskraftunabhängigen Wachstums“.

Auch die Arbeitsbedingungen werden infolge der Globalisierung immer prekärer: Mangelnder Arbeitsschutz, Arbeitszeitverlängerung, Lohndrückerei.

All dies führt zu sozialen Umschichtungen: Menschen, die in der „Neuen Weltordnung“ überflüssig sind, weil sie nicht produzieren, nicht konsumieren, nicht Kredite nehmen, also zu gar nichts nutze sind. Sie verteilen die Bewohner um und sondern die Überzähligen aus.

Das also ist die Figur, die aussieht wie ein Dreieck – die Ausbeutungspyramide der Welt.



(3) Migration, der umherirrende Alptraum

Figur 3 ist ein einfacher gezeichneter Kreis.

Es war schon die Rede von den neuen Territorien, die nach dem Dritten Weltkrieg erobert werden wollten (die ehemals sozialistischen Länder) und von den Gebieten, deren Rückeroberung durch die „Neue Weltordnung“ ansteht. Die Finanzzentren verfolgen eine Dreifachstrategie: Erstens sorgen sie für die Ausbreitung „regionaler Kriege“ und „interner Konflikte“, zweitens verfolgen sie unorthodoxe Wege der Kapitalakkumulation, drittens mobilisieren sie große Massen von Arbeitskräften. Resultat: der Riesenzirkus von Millionen Migranten in der ganzen Welt. „Fremd“ in einer „Welt ohne Grenzen“, die die Sieger des kalten Krieges versprochen haben, sind Millionen von Menschen fremdenfeindlicher Verfolgung ausgesetzt, arbeiten unter gefährdeten Bedingungen, büßen ihre kulturelle Identität ein, leiden unter polizeilicher Repression und Hunger, werden ins Gefängnis geworfen oder ermordet.

Der Alptraum Migration, welches auch immer seine Ursachen sein mögen, breitet sich spiralförmig über die ganze Erdoberfläche. Die Zahl der vom UN- Hochkommissariat für Flüchtlinge erfaßten Personen ist zwischen 1975 und 1995 explosionsartig von etwas mehr als 2 Millionen auf über 27 Millionen Menschen angestiegen.

Die Flüchtlingspolitik des Neoliberalismus zielt viel eher auf Destabilisierung des Weltarbeitsmarktes als auf Eindämmung der Immigration. Der Vierte Weltkrieg und die dadurch forcierten Prozesse der Zerstörung/ Entvölkerung sowie Rekonstruktion/ Neuordnung löst die Wanderung von Millionen Menschen aus, die für die Arbeitenden in den verschiedenen Ländern zwangsläufig eine Bedrohung ihres Arbeitsplatzes darstellen. Damit dienen sie als Ventil zur Entlastung der Patrons und als Vorwand für den wachsenden Rassismus.



(4) Globalisierung von Korruption und Verbrechen

Figur 4 stellt ein schlichtes Rechteck dar.

Die Welt des Verbrechens ist keineswegs mehr identisch mit Unterwelt und finsteren Machenschaften. In der Epoche des kalten Krieges erwarb sich das organisierte Verbrechen ein respektableres Image, begann wie jedes andere moderne Unternehmen zu funktionieren und durchdrang die politischen und wirtschaftlichen Systeme der Nationalstaaten.

Mit Beginn des Vierten Weltkrieges begann das organisierte Verbrechen seine Aktivitäten zu globalisieren. Die kriminellen Organisationen der fünf Kontinente partizipieren im „Geist der globalen Kooperation“ als Gesellschafter an der Eroberung und Neuordnung der neuen Märkte. Sie investieren in legale Geschäfte, nicht nur zur „Geldwäsche“, sondern auch, um Kapital für ihre illegalen Geschäfte zu akkumulieren.

Ali Baba und die vierzig Bänker? Schlimmer. Das schmutzige Geld des organisierten Verbrechens wird von den kommerziellen Banken für ihre normalen Aktivitäten genutzt. Gemäß einem UN-Bericht wurde „die Entwicklung der Verbrechenssyndikate durch die Strukturanpassungsprogramme gefördert, welche die verschuldeten Länder zu akzeptieren gezwungen waren, um Zugang zu den Krediten des Internationalen Währungsfonds zu erhalten“3 .

Das organisierte Verbrechen profitiert auch von den Steuerparadiesen. Weltweit gibt es deren fünfundfünfzig, die neben der Geldwäsche auch der Steuerflucht dienen. Hier pflegen Politiker, Geschäftsleute und die Bosse des organisierten Verbrechens ihre Kontakte.

Daher der rechteckige Spiegel, in dem sich Legalität und Illegalität gegenüberstehen. Der Kriminelle und sein Verfolger: wo ist das Original und wo sein Spiegelbild?



(5) Legitime Gewalt seitens einer illegitimen Macht?

Figur 5 nimmt die Form eines Fünfecks an.

Im Varieté der Globalisierung erleben wir die „Strip-Show“ eines Staates, der am Ende der Vorstellung nur noch das absolut unentbehrliche Minimum anhat: seine Repressionsinstrumente. Nachdem seine materielle Grundlage zerstört, seine Souveränität annulliert, seine politische Klasse zur Bedeutungslosigkeit verkommen ist, verwandelt sich der Nationalstaat mehr oder weniger rasch in einen reinen „Sicherheits“-Apparat im Dienste der Megaunternehmen. Statt die öffentlichen Gelder im Sozialbereich anzulegen, rüstet er lieber sein Sicherheitsarsenal auf, um die Gesellschaft effizienter zu kontrollieren. Auf das „legitime Gewaltmonopol“ berufen sich die Repressionsapparate der modernen Staaten. Aber was ist legitim, was illegitim, wenn diese Gewalt nur noch den Gesetzen des Marktes gehorcht? Welches Gewaltmonopol können die gebeutelten Staaten beanspruchen, wenn das freie Spiel der Marktkräfte dieses Monopol in Frage stellt – wenn also organisiertes Verbrechen, Regierungen und Kapitalzentren eng verflochten sind? Ist es nicht offensichtlich, daß das organisierte Verbrechen über ganze Armeen verfügt? Das „Gewaltmonopol“ gehört nicht mehr den Nationalstaaten, es ist auf dem freien Markt zu haben.

Wenn aber das Gewaltmonopol nicht durch die Gesetze des Marktes, sondern durch die Interessen der „Menschen von unten“ angegriffen wird, sieht die Weltmacht darin eine Aggression. Dies ist der selten untersuchte, aber um so häufiger verurteilte Aspekt der Herausforderung, die der Kampf der Indigenas der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN gegen den Neoliberalismus für die Menschheit bedeutet.

Das Symbol der US-amerikanischen Militärmacht ist das Pentagon. Die neue „Weltpolizei“ will, daß nationale Armeen und Polizeitruppen nur noch das „Sicherheitskorps“ darstellen, das die Ordnung und den Fortschritt der neoliberalen Megapolis garantiert.



(6) Die Megapolitik und die fügsamen Zwerge

Figur 6 sieht aus wie eine wirre Kritzelei.

Wir haben gesagt, daß die Nationalstaaten durch die Finanzzentren gedrängt und gezwungen werden, sich in den Megapolis aufzulösen. Doch der Neoliberalismus führt seinen Krieg nicht nur, indem er Nationen und Regionen „vereint“, seine Doppelstrategie von Zerstörung/ Entvölkerung und Wiederaufbau/ Neuordnung verursacht einen oder mehrere Risse in den bisherigen Staaten. Es ist eines der Paradoxe dieses Vierten Weltkrieges, daß er geführt wird, um Grenzen aufzuheben und Nationen zu „vereinen“, in Wirklichkeit aber die Grenzen multipliziert, ja die Nationen, die er zerstört, geradezu pulverisiert.

Wer bezweifelt, daß diese Globalisierung ein Weltkrieg ist, muß nur all die Konflikte registrieren, die der Zusammenbruch von Staaten mit sich gebracht hat. Wie etwa in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien, wo die Krisen die wirtschaftlichen Grundlagen der Staaten und deren gesellschaftliche Strukturen vernichtet haben. Wir haben von den Megapolis-Strukturen gesprochen, nun ist die Rede von der Fragmentierung der Staaten. Beides ist die Folge der Zerstörung der Nationalstaaten. Handelt es sich etwa um zwei parallele Vorgänge, die nichts miteinander zu tun haben? Sind es Symptome einer bevorstehenden Megakrise? Sind es Einzelepisoden?

Die Aufhebung von Handelsgrenzen, die Universalität der Telekommunikation, die Informations- Superhighways, die allgegenwärtige Macht der Finanzmärkte, die internationalen Freihandelsabkommen, kurz, der ganze Globalisierungsprozeß führt mit der Zerstörung der Nationalstaaten auch zu einer Pulverisierung der Binnenmärkte. Paradoxerweise bringt die Globalisierung eine fragmentierte Welt hervor, die sich aus lauter isolierten (oder sich ausschließenden) Einzelteilchen zusammensetzt; eine Welt aus lauter abgeschotteten Abteilen, verbunden nur durch fragile wirtschaftliche Brücken; eine Welt von zerbrochenen Spiegeln, in denen sich die nichtsnutzige globale Einheit des neoliberalen Puzzles widerspiegelt. Doch der Neoliberalismus fragmentiert nicht nur die Welt, die er zu vereinen vorgibt, er stellt auch das politisch-ökonomische Zentrum, von wo aus dieser Krieg gelenkt wird. Damit sind wir bei der Megapolitik. Sie globalisiert die nationalen Politiken, unterwirft sie einer Führung, die mit der Verfolgung von Marktinteressen globale Strategien entwirft. Im Namen dieser Logik wird über Kriege entschieden, über Kredite, Kauf und Verkauf von Waren, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, Handelsblockaden, über politische Hilfsprogramme, Migrationsgesetze, Staatsstreiche, Repressionsmaßnahmen, Wahlen, über internationale Zusammenschlüsse, internationale Friktionen, Investitionen, kurz über das Schicksal ganzer Nationen.

Die Finanzmärkte kümmern sich nicht einmal darum, welche politische Couleur die Führung eines Landes hat: Hauptsache, sie übernimmt ihre Wirtschaftsprogramme. Ihre Finanzkriterien gelten für alle. Sie können auch eine linke Regierung problemlos tolerieren, vorausgesetzt, sie enthält sich aller Maßnahmen, die den Märkten schaden könnten. Niemals würden sie eine Politik tolerieren, die es wagt, mit dem dominanten Modell zu brechen.

Für die Megapolitik sind die nationalen Politiken eine Sache von Zwergen, die sich einzufügen haben. So wird es immer bleiben, es sei denn, die Zwerge beginnen zu rebellieren. Das also ist die Figur, die die Megapolitik darstellt; sie läßt keine Spur von Rationalitat erkennen.



(7) Widerstand und Vielfalt der Widerstände

Figur 7 sollte möglichst wie ein Nest aussehen.

„Zu allererst mußt du unbedingt Widerstand und politische Opposition auseinanderhalten. Die Opposition opponiert nicht gegen die Macht, sondern gegen eine Regierung, ihre ideale Form ist die einer Oppositionspartei. Der Widerstand hingegen ist per definitionem keine Partei: er ist nicht zum Regieren da, sondern um Widerstand zu leisten.“ (Tomás Segovia, „Alegatorio“, Mexiko 1996)

Diese Pseudo-Unfehlbarkeit der Globalisierung stößt auf den hartnäckigen Ungehorsam der Wirklichkeit. Während der Neoliberalismus seinen Weltkrieg betreibt, tun sich überall Menschen zusammen, die sich verweigern und rebellieren. Das Reich der Reichen sieht sich plötzlich lauter Widerstandsnestern gegenüber. Ja, Widerstandsnestern in allen Größen, Farben und Formen. Gemeinsam ist ihnen die Rebellion gegen die „Neue Weltordnung“, gegen das Verbrechen an der Menschheit, den neoliberalen Krieg.

Der Neoliberalismus versucht, Millionen Menschen zu unterwerfen und alle die loszuwerden, die in seiner neu eingeteilten Welt nirgends Platz haben. Aber die Überflüssigen rebellieren und widersetzen sich der Macht, die sie hinwegspülen will. Frauen, Kinder, Alte, Junge, Indigenas, Grüne, Homosexuelle, Lesben, HIV-Positive, Arbeiter, lauter Sandkörner im Räderwerk der neuen Ordnung, Menschen, die rebellieren, sich organisieren, kämpfen. Im Wissen um ihre Gleichheit und Verschiedenartigkeit beginnen die Ausgeschlossenen der „Modernität“, ihre Nester zu Dämmen zusammenzufügen.

So plant man in Mexiko im Rahmen des „Integralen Entwickungsprogramms für den Isthmus von Tehuantepec“ eine große Industriezone mit „maquiladora“-Betrieben. Hier sollen ein Drittel des mexikanischen Rohöls raffiniert und 88 Prozent der petrochemischen Produkte hergestellt werden. Dazu braucht man Transportwege zwischen der karibischen und der pazifischen Küste: Straßen, einen Kanal, eine Eisenbahnlinie (betrieben von vier US-amerikanischen und einem kanadischen Unternehmen). Zwei Millionen Einheimische sollen zu Arbeitern in diesen Fabriken werden. Auch im Südosten Mexikos soll das „Nachhaltige regionale Entwicklungsprogramm für den lacandonischen Regenwald“ für das Kapital weite Landstriche der Indigenas erschließen, die eine reiche Geschichte und Kultur aufweisen, aber eben auch reiche Erdöl- und Uranvorkommen.

Diese Projekte würden auch die Fragmentierung Mexikos bewirken, weil der Südosten vom Rest der Republik abgetrennt würde, aber sie dienen auch der Aufstandsbekämpfung: Die beiden Regionen bilden eine Zange, um die antineoliberale Rebellion zu liquidieren, denn zwischen ihnen liegt das Gebiet, in dem 1994 die Rebellion der Indigenas der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN ausgebrochen ist.

Paradoxerweise hat man der EZLN vorgeworfen, sie habe es auf die Fragmentierung des Landes abgesehen. Tatsächlich verfechten die Zapatisten die Verteidigung des Nationalstaates angesichts der Globalisierung. Und die Versuche, Mexiko zu zerstückeln, gehen von Regierungskreisen aus. Die Forderung nach mehr Autonomie bedeutet nicht, daß die EZLN oder andere indigene Bewegungen sich von Mexiko abtrennen wollen. Sie wollen vielmehr, mit ihren besonderen Merkmalen, endlich als Teil dieses Landes anerkannt werden. Die EZLN verteidigt die nationale Souveränität, die mexikanische Bundesarmee hingegen schützt eine Regierung, die bereits die materiellen Grundlagen des Nationalstaates zerstört und das Land nicht nur dem internationalen Großkapital, sondern auch dem Drogenbusiness ausgeliefert hat.

Auch in anderen Gegenden Mexikos, in Lateinamerika, in den USA und in Kanada, im Maastricht- Europa, in Afrika, Asien und Ozeanien gibt es immer mehr Gruppen, die Widerstand leisten. Jede hat ihre eigene Geschichte, ihre Besonderheit, ihre Bezugspunkte, ihre Fragen, Kämpfe, Erfolge. Es gibt so viele verschiedene Modelle des Widerstandes, wie es in dieser (einen, gemeinsamen) Welt Widerstandsnester gibt. Am besten malen Sie sich selbst das Modell, das Ihnen am besten gefällt.

Wenn wir diese sieben Teile gezeichnet, koloriert und ausgeschnitten haben, stellen wir fest, daß es unmöglich ist, sie zusammenzufügen. Das ist das Problem der Welt: Die Globalisierung versucht, Teile zusammenzufügen, die nicht zusammenpassen. Deshalb, und auch aus anderen Gründen, die in diesem Text keinen Platz mehr finden, müssen wir eine neue Welt erschaffen. Eine Welt, in der viele Welten Platz haben. In der alle Welten Platz finden.


Aus den Bergen im Südosten Mexikos

Postskriptum über die Träume, welche in der Liebe nisten: Das Meer ruht an meiner Seite. Schon lange teilt es meine Ängste, Unsicherheiten und viele meiner Träume, aber jetzt schläft es mit mir in der warmen Nacht der Selva. Im Traum sehe ich vor mir das Meer wogen wie ein Kornfeld, und ich staune wieder einmal darüber, es unverändert wie immer zu empfinden, lauwarm, frisch, an meiner Seite. Die Atemnot treibt mich aus dem Bett, ich muß zur Feder greifen, um den alten Antonio heraufzubeschwören, heute wie schon seit vielen Jahren.

Ich habe den alten Antonio gebeten, mich den Bach entlang bei einem Erkundungsgang zu begleiten. Wir haben nur wenig Proviant dabei. Stundenlang folgen wir den Schlingen des Wasserlaufes, Hunger und Hitze machen uns zu schaffen. Den ganzen Nachmittag folgen wir einer Wildschweinherde. Kurz vor Einbruch der Nacht holen wir sie endlich ein, doch da löst sich ein riesiges Tier aus der Herde und geht wütend auf uns los. Ich erinnere mich an die Instruktionen beim Militär und werfe meine Waffe weg, um auf den nächsten Baum zu klettern. Der alte Antonio rührt sich kaum; statt wegzurennen, stellt er sich hinter einen Lianenbusch. Das riesige Wildschwein rennt mit voller Kraft auf ihn zu und verstrickt sich in den Lianen und Dornen. Bevor es sich wieder befreien kann, hebt der alte Antonio seine Flinte, trifft das Wildschwein in den Kopf und hat uns für diesen Abend eine Mahlzeit besorgt.

Nachdem ich mein modernes Automatik-Gewehr gereinigt habe (ein M-16, Kaliber 5,56 Milimeter, mit Dauerfeuer und einer effektiven Reichweite von 460 Metern, plus Zielfernrohr und einem Magazin für 90 Schuß), mache ich meine Tagebucheintragungen. Ich schreibe lediglich: „Wir trafen auf eine Wildschweinherde, und A. hat ein Exemplar erlegt. Meereshöhe 350 Meter. Kein Regen.“

Während wir darauf warten, daß das Fleisch durchgebraten ist, sage ich zum alten Antonio, der mir zustehende Teil sei für die Feste im Lager reserviert. „Feste?“ fragt er, während er das Feuer schürt. „Ja“, sage ich, „es spielt keine Rolle, in welchem Monat wir sind, immer gibt es was zu feiern.“ Und ich zähle ihm einen ganzen Kalender historischer Daten und zapatistischer Feiertermine auf. Schweigend hört der alte Antonio zu; ich denke, es interessiert ihn nicht recht, und lege mich schlafen.


Zwischen den Träumen sehe ich, wie der alte Antonio das Tagebuch nimmt und etwas hineinschreibt. Am Morgen nach dem Frühstück teilen wir das Fleisch unter uns auf, und jeder geht seiner Wege. Im Lager angekommen, berichte ich das Geschehene und zeige das Tagebuch. „Das ist aber nicht deine Schrift“, sagt der Kommandant und hält mir die letzte beschriebene Seite unter die Nase. Nach meiner Eintragung hatte der alte Antonio in großen Buchstaben folgendes dazugeschrieben: „Wenn du nicht gleichzeitig die Vernunft und die Kraft hast, wähle immer die Vernunft und überlaß dem Feind die Kraft. In vielen Kämpfen ist es die Kraft, die zum Sieg führt, aber den Krieg gewinnt nur die Vernunft. Der Mächtige kann niemals Vernunft aus seiner Stärke ziehen, wir aber immer Kraft aus der Vernunft.“ Und weiter unten, in ganz kleiner Schrift, stand noch: „Fröhliches Feiern!“. Ich hatte keinen Hunger mehr. Doch das Fest war fröhlich, wie es bei den Zapatisten üblich ist.


Von SUBCOMANDANTE MARCOS *

dt. Andreas Simmen

* Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), Chiapas, Mexiko.

Fußnoten: 1 Im Gespräch mit Marta Garcia, La Jornada, 28. Mai 1997. 2 Ochoa Chi und Juanita del Pilar, „Mercado Mundial de Fuerza de Trabajo en el Capitalismo Contemporáneo“, UNAM, Economia, Mexiko 1997. 3 „Die Globalisierung des Verbrechens“, Vereinte Nationen, New York 1995.

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