Jahresrückblick ... [Text können Sie hier selbst einfügen...]
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Höfliche Randalierer, Prügelnde US-Politiker, Winnie Puuh als Systemkritik in China, und die Grausamkeit der Hamas. Bei der Beerdigung von Sagiv Ben Zvi ertönt Sirenenalarm. Der 24-Jährige wurde von Hamas-Terroristen beim Supernova Festival am 7.Oktober in Israel ermordet. Die politischen Momente 2023 unserer Qonline-Redaktion.
Was uns von 2023 in Erinnerung bleibt
Die Hamas-Massaker, die brennenden Banlieues in Frankreich, der Militärputsch in Niger, Prigoschins Marsch auf Moskau, die Bombardierungen in Gaza, Orbáns Tritt vor die Tür beim EU-Gipfel. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ZEIT ONLINE und ZEIT erinnern sich an ihre persönlichen politischen Momente des Jahres 2023, an die Geschichten hinter ihren eigenen Recherchen und außenpolitischen Analysen. Die jeweiligen Texte, geordnet von Januar bis Dezember, sind in den Absätzen verlinkt.
USA - Wenn Macht alles ist, und Anstand nichts
Sag mal, hat der den gerade gewürgt? Es war spät am Abend, die Sitzung lang gewesen und meine Augen schon müde. Oben auf der Pressetribüne starrten wir Journalisten fassungslos nach unten in den Plenarsaal: Handgreiflichkeiten zwischen Abgeordneten, ausgerechnet am zweiten Jahrestag des Sturms auf das Kapitol. Was die Republikaner dort unten aufführten, war aber nur das Finale eines ohnehin unwürdigen Schauspiels. In vierzehn Wahlgängen hatte Kevin McCarthy versucht, Sprecher des US-Repräsentantenhauses zu werden, vierzehnmal war er gescheitert. Am Ende erkaufte er sich die nötigen Stimmen mit Zugeständnissen an die extremen Rechten in seiner Fraktion. Die Folgen sind bekannt: McCarthy wurde gestürzt, im neuen Jahr will er dem Repräsentantenhaus dann gar nicht mehr angehören. Die Republikanische Partei bleibt fest im Griff von Menschen, denen Macht alles ist und Anstand nichts. Und die USA sehen einem noch existenzielleren Wahlkampf als 2020 entgegen.
Brasilien - Etwas Hoffnung für den Amazonas
Am 1. Januar löste Lula da Silva im brasilianischen Präsidentenpalast seinen Vorgänger Jair Bolsonaro ab, und brachte ein gewagtes Versprechen mit: die Abholzung des Amazonaswaldes aufzuhalten. Das größte zusammenhängende Regenwaldgebiet der Welt könnte sich bei weiterer Abholzung und Brandrodung binnen kurzer Zeit in eine Steppe verwandeln. Die Folgen fürs Weltklima? Kaum absehbar. Von Lulas Ankündigungen hielt ich erst einmal wenig. Im Herzen ist er kein Umweltschützer, sondern ein Arbeiterführer und Fürsprecher der wirtschaftlichen Entwicklung. Ich war freudig überrascht, als er tatsächlich große Kontingente bewaffneter Truppen in Holzfäller- und Goldgräbergebiete schickte und echte Erfolge erzielte. Allerdings ergibt das alles noch kein klares Bild. Lula ist auch für Ölförderung am Amazonas, sowie für den Bau neuer Straßen – man wird also 2024 sehen, ob der Amazonaswald unter Lula wirklich noch eine Chance hat.
"Was jetzt?" – Der Überblick
China - Als Xi die USA beim Namen nennt
Xi Jinping, Chef der Kommunistischen Partei Chinas, äußert sich öffentlich meist in wolkigen Umschreibungen zur politischen Weltlage. Er steht über den Dingen – so soll Chinas Propaganda ihn präsentieren. Es war also neu, als die staatliche Nachrichtenagentur im März eine Aussage Xis aus einer nicht öffentlichen Rede zitierte, in der er die USA explizit beim Namen nannte: "Insbesondere die westlichen Länder, angeführt von den USA, verfolgen eine umfassende Eindämmung, Einkreisung und Unterdrückung Chinas". Xi wollte mitteilen, dass sich das Land auf mehr Konfrontation mit den China-kritischen Vereinigten Staaten einstellt. Er wird auch versucht haben, damit von Problemen wie dem abgestürzten Immobilienmarkt abzulenken, in dem gerade Ersparnisse der Bevölkerung vernichtet werden. Es sind also unruhige Zeiten. Deswegen soll die Betonung eines Antagonismus zu den USA vor allem die Reihen in der Kommunistischen Partei schließen. Das Überleben der KP-Herrschaft ist Xi am wichtigsten.
Kenia - Was Deutschland in Kibera lernen könnte
Mein Moment des Jahres 2023? Kein Interview mit einem Politiker, keine Reise in ein Kriegsgebiet. Sondern der Besuch in der Ayany-Schule in Kibera, Kenias größtem Armenviertel, und die Begegnung mit Norah Mudanya. Sie unterrichtet Selbstverteidigung für Mädchen. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Begeisterung und Energie in einem Klassenzimmer voller Teenager erlebt. Mudanya arbeitet für die NGO Ujamaa-Africa, die diese Kurse jetzt im Auftrag des Bildungsministeriums an Schulen im ganzen Land anbietet. Das Programm wurde mehrfach evaluiert, unter anderem von Wissenschaftlerinnen der US-amerikanischen Stanford-Universität. Während Deutschland und andere reiche Länder vor allem in die Nachsorge investieren, in Notrufstellen und Frauenhäuser, zeigt sich in Kibera, wie Gewaltprävention auch aussehen könnte.
Ukraine - Das Wunder unter den Trümmern
Im Mai sahen wir ein Video von einem Haus, das von einer Artilleriegranate getroffen wurde und dann einstürzt. Wir saßen gerade an einer Recherche über ausländische Kämpfer in der Ukraine. Und nun wussten wir nicht: War einer dieser Männer in diesem Haus gestorben? Dsjanis Urbanowitsch heißt er, vor dem Krieg war er Demokratieaktivist in Belarus. Damals hieß es, Urbanowitsch läge unter den Trümmern. Was stimmte. Mehrere seiner Freunde waren dort gestorben. Doch Urbanowitsch hat wie durch ein Wunder überlebt. In diesem Moment verstanden wir sehr genau, was für immense Risiken diese Männer an der Front eingehen. Es fühlte sich surreal an, dass unser Leben hier in Deutschland so friedlich war und es weniger und weniger Menschen zu scheren schien, dass gar nicht so weit entfernt Männer in Bachmut in Schützengräben starben.
Syrien - Ein Diktator kehrt zurück auf die Weltbühne
Für den syrischen Diktator Baschar al-Assad dürfte 2023 ein gutes Jahr gewesen sein: Nach zwölf Jahren der politischen Isolation nahmen die Mitgliedsstaaten der arabischen Liga Syrien wieder auf. Dahinter steckt der Wunsch, direkt mit Baschar al-Assad sprechen zu können, wie etwa über Hilfe für das Erdbeben im Februar. Für viele Syrerinnen und Syrer aber kommt diese politische Normalisierung einer Akzeptanz von Al-Assads Kriegsverbrechen gleich. Sie vermittelt außerdem den falschen Eindruck, das Land sei wieder sicher. So hat die libanesische Armee in diesem Jahr massenhaft Syrer abgeschoben, ohne Vorwarnung oder gerichtliche Verfahren. Wie etwa die Frau und die drei jüngsten Kinder von Hussein. Im Mai traf ich Hussein, dessen Name zum Schutz verändert ist, und seinen ältesten Sohn in einem Rohbau ohne Strom und fließendes Wasser. Da seine Ehefrau das einzige Handy der Familie bei sich trug, wussten die beiden tagelang nicht, was mit ihrer Familie geschehen war. Husseins langjähriger Arbeitgeber bot ihm daraufhin ein altes Handy an. Dafür aber sollte Hussein zwei Monate auf seinen Lohn verzichten, der ohnehin nur wenige Dollar am Tag beträgt. Es sind Momente wie diese, die mich an der Menschheit zweifeln lassen. Stella Männer, freie Nahostkorrespondentin in Beirut
Russland - Wer glaubt schon Prigoschin, diesem Wichtigtuer?
Am 24. Juni schaute ich morgens wie gewöhnlich noch im Bett auf mein Handy. Doch selten war ich so schnell wach: Plötzlich waren überall Bilder zu sehen von Panzern in Rostow am Don, von bewaffneten Männern mit Fahnen der Söldnertruppe Wagner. Dann noch dieses Video von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin, wie er den russischen Vizeverteidigungsminister im Hauptquartier des Militärbezirks Süd maßregelt, er solle ihn nicht duzen. Es war klar: Das ist Geschichte. In Russland ist ein Aufstand. Womöglich eine Revolution. Ein paar Stunden vorher hatte ich mich auf einer Party mit russischen Freunden noch darüber amüsiert, als Prigoschin per voice message auf Telegram ebendiesen Aufstand angekündigt hatte. Wer glaubt schon Prigoschin, diesem Wichtigtuer? Gegen Putin? Keine Chance! "Schauen wir uns morgen an", schrieb ich abends meinem Ressortleiter. Nun, der Morgen hätte überraschender nicht sein können. Plötzlich war Putins Macht – die russische Gewissheit seit zwei Jahrzehnten – für einen Moment gar nicht mehr da. Zwei Monate später war Prigoschin tot. Und Putin hat heute die Zügel so fest in der Hand wie lange nicht mehr.
Russland - Die Kraft der hervorbrechenden Überraschung
Der prägendste Moment des Jahres? Das war die Rebellion des russischen Nationalisten und Söldnerführers Jewgeni Prigoschin gegen die russische Regierung. Doch auch wenn der Aufstand des Söldnerführers scheiterte und er ihn Monate später mit seinem Leben bezahlen sollte, hat die Rebellion die Schwächen und Risse im Fundament von Putins zunehmend totalitärem Staat gezeigt. Die Opposition von rechts war 2023 die größte Bedrohung von Putins Macht. Und sie ist nicht überwunden. Putins Inszenierung eines starken Staats soll über alle inneren Spannungen, unausgesprochenen Widersprüche und mühsam erstickte Wut der russischen Gesellschaft hinwegspielen. Prigoschins Rebellion zeigte die Kraft der hervorbrechenden Überraschung, die auch in Zukunft die Geschichte prägen wird – und nicht die Inszenierung.
Niger - Der Müll der ehemaligen Kolonialmacht
Ende Juli stürzten Soldaten in Niger den Präsidenten des westafrikanischen Landes. Vermutlich, weil ein General seinen frühzeitigen Ruhestand abwenden wollte. Doch schnell ging es um mehr als eine Karriere, sondern darum, wie Europa zusammen mit korrupten afrikanischen Eliten mit den Staaten der Sahelzone umspringt. Nach dem Putsch gingen Tausende Nigrerinnen und Nigrer auf die Straße. Sie feierten nicht nur den Sturz ihres Präsidenten, sondern forderten auch einen Bruch mit Frankreich. Die Junta machte sich diese Forderung sofort zu eigen. Warum, das wurde für mich in einem Moment ein paar Wochen später besonders greifbar: Die Putschisten wollten, dass ich die Uranminen im Norden Nigers sehe, dass ich sehe, was die frühere Kolonialmacht hier in den vergangenen Jahrzehnten angestellt hat. Ich saß auf der Rückbank eines Jeeps, der sich einen Hang hinaufschob. Plötzlich fiepte mein Geigerzähler. Der Hügel, auf den ich fuhr, ist der Müll von einem halben Jahrhundert Uran-Förderung, nur ein paar Kilometer von einer 100.000-Einwohner-Stadt entfernt. Ein französischer Staatskonzern hat mit dem Uran Milliarden verdient und den Nigrerinnen und Nigrern vor allem Müll hinterlassen. Und die früheren Präsidenten des Landes ließen es zu.
Nach dem Putsch feiern Tausende Nigrerinnen und Nigrer nicht nur den Sturz ihres Präsidenten, sondern forderten auch einen Bruch mit Frankreich. Wie hier in Niamey, am 3. August, dem Unabhängigkeitstag des Landes.
Frankreich - "Madame, ich zeige Ihnen, wie das Leben hier wirklich ist"
Vor der Brasserie mit den zersplitterten Fensterscheiben stehen US-amerikanische Journalisten mit schusssicherer Weste. In der Mitte desPlatzes im Pariser Vorort Nanterre kokeln Autoreifen, Jugendliche sitzen rauchend auf den Parkbänken. Seit zwei Tagen stecken sie und Tausende Altersgenossen die Vorstädte und zunehmend auch die Zentren Frankreichs bei Dunkelheit in Brand. Einer von ihnen, der 18-jährige Nahel, wurde Ende Juni bei einer Polizeikontrolle aus nächster Nähe erschossen. Freimütig erzählen die Jugendlichen von ihrer Trauer über seinen Tod, ihre tägliche Gewalterfahrung mit der Polizei und dem Gefühl, niemals über ihr Leben bestimmen zu können. Einer der Aufständischen kommt mit einem Backstein in der Hand auf mich zu. "Madame, bleiben Sie länger, mindestens ein paar Monate", sagt der höchstens 17-Jährige freundlich zu mir. "Ich zeige Ihnen, wie das Leben hier in der Vorstadt wirklich ist – dann wären Sie heute Abend auch dabei". Dann schmettert er den Backstein gegen ein verglastes Werbeposter für pastellfarbene Armbanduhren. Ich verneine. Aber noch heute grübele ich über seinen Kommentar.
Österreich - Karin Kneissl und ihre Ponys
"Karin Kneissl zieht nach Russland". Es war Mitte August, als ich mir die Augen rieb und hoffte, dass ein Satireportal hinter dieser Meldung steckte. Kneissl war von 2017 bis 2019 österreichische Außenministerin. Sie wurde berühmt, weil sie Wladimir Putin zu ihrer Hochzeit einlud, mit ihm Walzer tanzte und am Ende vor ihm einen tiefen Knicks machte. Zwei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zieht sie nun nach St. Petersburg? Und soll dort den kremltreuen Thinktank Gorki leiten? Ich wollte es erst nicht glauben. Doch die Meldung stimmte. Es ist wirklich passiert. Man ist ja von Österreich einiges gewohnt. Parteien, Banken, Unternehmen – viele haben ein schlampiges Verhältnis zu Moskau. Die Nachricht von Karin Kneissls Umzug hat das nur noch einmal in Erinnerung gerufen. Ach ja: Kneissls Ponys kamen mit. Das russische Militär hat mit einem Flugzeug ausgeholfen. Auch das ist keine Satire.
Südafrika - Putin unter Freunden
Auf G7- und G-20-Gipfeln, bei Nato-Treffen und gemeinsamen Pressekonferenzen mit dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj betont die westliche Allianz um die Vereinigten Staaten und Europa gern die Isolation Wladimir Putins. Es ist auch eine Durchhalteparole in einem bald drei Jahre andauernden Angriffskrieg, den der russische Präsident gegen die Ukraine führt. Wie einseitig diese Annahme ist, zeigt ein lehrreicher Perspektivwechsel. August 2023, die Gruppe der Brics – also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – traf sich in Johannesburg zu ihrem Gipfel des Jahres. Putin wurde nur per Video zugeschaltet. Aufgrund des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) konnte er nicht nach Südafrika reisen, da das Land das Statut des ICC anerkannt hat. Doch obwohl er nur auf der Videoleinwand zu sehen war, wurde in der Messehalle in Johannesburg deutlich: Hier ist Putin unter Freunden. Niemand widersprach seinen faktisch falschen Aussagen über den Krieg. Im Gegenteil. Nach einer siebenminütigen Rede Putins applaudierten ihm die Regierungschefs Modi, Lula, Xi und Ramaphosa. "Starke Rede", sagte ein russischer Journalist nach einem Putin-Auftritt. In der Abschlusserklärung des Gipfels stand kein Wort zum Ukraine-Krieg. Aber der Beschluss, Brics um sechs Länder zu erweitern. Der Kreis von Putins Freunden wird also 2024 im Brics+-Format noch größer.
Mosambik - Der vergessene Konflikt
Zwei Monate hatte ich versucht, die Provinz Cabo Delgado zu bereisen. Per Hubschrauber mit einer Hilfsorganisation schaffte ich es schließlich hin. Der Konflikt im Norden von Mosambik gehört zu den vergessenen dieser Welt. Mehrere Jahre terrorisierten Islamisten die Bevölkerung, die unter Armut leidet und von einer korrupten Regierung unterdrückt wird. Nach Jahren der Angst kehrten dort einige Bewohner zögerlich zurück in die Trümmer ihrer Häuser. Viele Orte sind vom Militär abgeriegelt, viele Straßen noch immer Ziel von Terrorangriffen. Dann sagte mein Übersetzer kurzfristig ab, aus Angst, verhaftet zu werden. Ein paar Gespräche waren dennoch möglich. Manche wollten unbedingt reden, andere waren misstrauisch. Die Polizei zum Beispiel setzte mich nach einigen Stunden fest; der Polizeichef wollte mich am liebsten wegsperren. Wir einigten uns schließlich auf eine Eskorte zum Flughafen, die Recherche war damit frühzeitig beendet. Den Menschen in Mosambik geht es heute etwas besser, seitdem Soldaten aus Ruanda für Sicherheit sorgen. Doch die korrupte Regierung vernachlässigt die Region noch immer. Selten habe ich einen Konflikt erlebt, der so komplex ist. Eine Erinnerung, dass es nicht immer einfache Lösungen für große Probleme gibt.
Italien - Das Symbol von Lampedusa
Am 17. September spielt sich auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa eine skurrile Begegnung ab: Regierungschefin Giorgia Meloni trifft sich dort medienwirksam mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Insel hatte den Notstand ausgerufen, nachdem dort in wenigen Tagen Tausende Migrantinnen und Migranten über das Mittelmeer angekommen waren. Nun brüstet sich also die Chefin der ultrarechten Fratelli d’Italia damit, auf Lampedusa Einigkeit mit der EU zu demonstrieren. Dabei hat Meloni dieser jahrelang vorgeworfen, Italien beim Thema Migration im Stich zu lassen. Von der Leyen bringt außer sich selbst auch nicht viel mit nach Lampedusa. Also inhaltlich. Symbolisch war das Treffen jedoch weitreichend. Es dürfte zwar nicht der Beginn einer neuen Freundschaft gewesen sein, aber wohl der Startschuss für neue Konstellationen im EU-Parlament. 2024 wird gewählt – und die Konservativen können jeden und jede gebrauchen, den sie auf ihre Seite zu ziehen vermögen. Und wenn es Giorgia Meloni ist.
Bergkarabach - Verschwindende Botschaftsmitarbeiter
Am 19. September, zwischen 11 und 12 Uhr am Mittag, telefonierte ich mit der Deutschen Botschaft und dem Goethe-Zentrum in Armenien. Ich habe einen Roman geschrieben, der in dem Land spielt. Nun planten wir eine Lesereise. Es war also ein banales Videogespräch. Doch plötzlich verschwand ein Botschaftsmitarbeiter wortlos aus dem Bild, der zweite verabschiedete sich abrupt. Wenig später erfuhr ich und auch die Welt, weshalb: Nach monatelanger Blockade hatte Aserbaidschan die von Armeniern autonom regierte Region Bergkarabach militärisch angegriffen. Was in den Tagen danach geschah, raubte mir den Atem: Hunderte Menschen wurden getötet, rund Hunderttausend flohen – die gesamte dort lebende armenische Bevölkerung. Und der Rest der Welt ließ es geschehen: Bis heute gibt es keine Sanktionen gegen Aserbaidschan, die EU ging nicht einmal auf nennenswerte Distanz zu ihrem Partner.
Israel - Israels 11. September
Der Überfall der Hamas auf Israel teilt dieses Jahr in ein Vorher und Nachher. Als uns die ersten Nachrichten und Bilder am 7. Oktober erreichten, war ich geschockt. Doch welches Ausmaß dieser Terror hatte, welch unglaubliche Brutalität und Gewalt, musste ich erst einmal verstehen. Am 8. Oktober übernahm ich die Redaktionsleitung für ZEIT ONLINE. Die Analyse unserer Israel-Korrespondentin Steffi Hentschke überschrieben wir mit der Zeile "Israels 11. September". Denn so viel war klar: Der Angriff der Hamas bedeutete ein Einschnitt. So viele getötete Israelis, und mit jeder Stunde wurden es mehr; die Entführungen, die vielen Orte mit Massakern und all die brutalen Videos und Bilder, die ich an dem Tag etwa vom Supernova-Festival sah. Dieser Terrorangriff stellte eine neue Dimension des Schreckens dar. Klar war auch, dass Israel auf diesen Angriff reagieren musste. In welchem Ausmaß, und mit welchen schrecklichen Folgen für die Menschen in Gaza, das war an jenem Sonntag noch eine der vielen offenen Fragen. Der Überfall der Hamas auf Israel teilt dieses Jahr in ein Vorher und Nachher.
Polen - Die Hoffnung auf Versöhnung
Anfang Oktober fuhr ich mit dem Auto durch Polen und fühlte mich wie in einem dystopischen Roman. Per Knopfdruck konnte ich wählen, in welchem Land ich mich befand. Suchte ich die Frequenz des Staatssenders, raste ich durch ein prosperierendes Polen, dessen Regierung die Leute vor einem Abstieg schützte, wie er in Berlin zu beobachten sei. Dort seien die Gefängnisse voller Migranten. Vergewaltigungen im Park gehörten zum Alltag. Schaltete ich einen privaten Sender ein, fuhr ich durch ein Land, dessen korrupte Regierung mit unfairen Tricks versuchte, die Parlamentswahlen zu gewinnen. In polnischen Wohnzimmern hörte ich wenig später die gleichen Argumente und hasserfüllten Sätze wie im Radio. So zerstritten habe ich das Land noch nie erlebt. Für liberale Polinnen und Polen war der Sieg der Opposition eine Erleichterung. Nicht nur, weil der Rechtsstaat wieder aufgebaut werden kann. Sondern auch, weil es eine Chance auf Versöhnung gibt.
Frankreich - Die Fahnen des Antisemitismus
Zwei Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel stehe ich in Paris auf dem Platz der Republik und staune über die vielen tausend Menschen, die palästinensische Fahnen schwenken, die israelische Regierung mit dem Hitler-Regime gleichsetzen und Emmanuel Macron als Faschisten beschimpfen. Einige rufen "Allahu Akbar". So wie der Islamist, der kurz zuvor einen Geschichtslehrer im nordfranzösischen Arras erstochen hatte. Kein Wort über diesen Mord, kein Wort über den Terror der Hamas fällt auf dem Platz der Republik. An diesem Nachmittag ist mir klar geworden, wie einseitig und unversöhnlich viele Menschen auf die Welt blicken. Wie tief die Gräben sind, die unsere westlichen Gesellschaften durchziehen.
Gaza - Die Gefahr der Eilmeldung
Quellen checken, Lage einschätzen, Eilmeldungen an unsere Millionen Leser und Leserinnen schicken: Am Newsdesk sind wir das schnelle Nachrichtenschreiben gewohnt. Seit dem Ukraine-Krieg kann uns nichts aus der Ruhe bringen. Dachten wir im Newsteam zumindest. Mit dem Beginn des Kriegs Israels gegen die Hamas hat sich die Lage noch mal verändert. Ich erinnere mich an eine Explosion beim Al-Ahli-Arabi-Krankenhaus in Gaza-Stadt Mitte Oktober. Die Hamas verkündete: Es sei eine israelische Rakete, es gebe Hunderte Tote. Keine valide Quelle für uns – aber ignorieren konnten wir es auch nicht. Viele Medien berichteten schnell darüber, wir blieben zurückhaltend. Wir machten deutlich, was wir mithilfe unseres Investigativteams und Satellitenbilder wissen: Es gab eine Explosion. Wir berichteten aber auch, was wir nicht wissen: Wer dafür verantwortlich ist. Es gab keine eindeutigen Beweise dafür oder unabhängige Quellen zu den Todeszahlen.
Argentinien - "Die Scheiß-Linkshänder"
Es war kurz vor den argentinischen Präsidentschaftswahlen, Javier Milei, der Außenseiter, fand überraschend starken Zuspruch. Wenn er in Talkshows auftrat, war Spektakel garantiert. Mal hatte er eine Motorsäge dabei, um zu zeigen, was er mit dem argentinischen Staat und seiner Bürokratie veranstalten würde. Mal brauchte er keine Werkzeuge, sondern bediente sich seiner Wortgewalt. So wie in einem Auftritt im Sender A 24. "Dem Scheiß-Linkshänder darf man keinen Millimeter geben, keinen Millimeter", wütete er über die politische Linke. Von der Moderatorin gefragt, warum er die politischen Gegner derart unflätig beschimpfe, antwortete er: "Weil sie scheiße sind." Und fügte hinzu: "Man verhandelt nicht mit dieser Scheiße." Damit war ein neuer Tiefpunkt in der politischen Debattenkultur des Landes erreicht. Weil sie als "Zurdo – Linkshänder" bezeichnet wurden, wurden während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 mehr als 10.000 Menschen von den Sicherheitskräften entführt gefoltert und ermordet. Die Militärs betrieben eine gnadenlose Jagd auf politische Gegner. Bis heute fehlt von vielen der damals Entführten jede Spur. Milei hat sein Diskurs nicht geschadet. Im Gegenteil. 40 Jahre nach dem Ende der Diktatur wurde er im Oktober in freien Wahlen zum Präsidenten des Landes gewählt. Mileis zur Schau gestellte Kompromisslosigkeit lässt böse Erinnerungen wach werden, gerade weil dem Land ob seines radikalen Sparkurses heftige soziale Konflikte drohen.
Türkei - Mehr als Erdoğan
"Allahu Akbar!", schreien Hunderte Menschen um mich herum. Wir stecken in einem Metro-Ausgang in Istanbul fest und haben ein Ziel: die Solidaritätskundgebung für Palästina, zu der der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eingeladen hat. Ich will berichten, die Menschen wollen demonstrieren. Viele von ihnen sehen die Hamas als Freiheitskämpfer und nicht als Terroristen. Nur einen Tag später stecke ich wieder in einer Menschenmasse fest. Dieses Mal auf offener Straße. Konfetti fliegt durch die Luft, die Menschen tragen Fackeln und rufen, sie seien die Soldaten von "Mustafa Kemal". Gemeint ist Atatürk: Heute vor einhundert Jahren hat er die türkische Republik gegründet. Unter ihm hatte Religion in der Öffentlichkeit und Politik keinen Platz. Krasser könnte der Unterschied der beiden Veranstaltungen nicht sein. Präsident Erdoğan polarisiert mit seinem politischen Islam seit Jahren erfolgreich. An diesen Tagen wurde deutlich: Die Türkei ist viel gegensätzlicher, als sie manchmal dargestellt wird – und vor allem ist sie viel mehr als ihr Präsident.
Westjordanland - Die Dichte des Konflikts
Was den Konflikt in Nahost so intensiv macht, ist seine räumliche Dichte. Er erstreckt sich über ein winziges Gebiet. Von Tel Aviv fährt man mit dem Auto knapp eine Stunde nach Jerusalem, von dort sind es nur wenige Kilometer ins Westjordanland, wo jüdische Siedlungen einen Steinwurf entfernt von palästinensischen Ortschaften liegen. Dort eskaliert in diesen Tagen die Gewalt. Radikale Siedler und israelische Soldaten attackieren palästinensische Bewohner. Rache für das Massaker der Hamas, so sehen es viele. In einem palästinensischen Dorf nahe Hebron besuchte ich eine junge Frau. Ihr Mann war von einem Siedler angeschossen worden. Während ich mit ihr sprach, rang er in einem Krankenhaus um sein Leben. Sie erzählte, dass die Siedler ihr Dorf terrorisieren und versuchen, die Palästinenser von ihrem Land zu vertreiben. Sie wolle doch nur in Frieden leben, sagte sie. Wenige Tage später besuchte ich einen jüdischen Siedler, er lebt nicht weit entfernt von der jungen Frau. Er trägt seit dem 7. Oktober ein M16-Gewehr mit sich herum und würde sofort abdrücken, sollten palästinensische Bewohner aus dem Nachbarort in seine Siedlung eindringen. Er wolle nur in Ruhe leben, sagte er. Er sei sicher, das wollen die Palästinenser auch.
USA - Der Präsidentschaftskandidat spricht wie ein Faschist
Am 11. November hielt Donald Trump in Claremont, New Hampshire eine Rede. "We pledge to you that we will root out the communists, Marxists, fascists and the radical left thugs that live like vermin within the confines of our country that lie and steal and cheat on elections." Wenige Tage zuvor war die Umfrage der New York Times erschienen, der zufolge Trump in den entscheidenden Swing States vor dem amtierenden Präsidenten Joe Biden liegt. Nun verstand ich, was ich bis dahin nur leise befürchtet, aber nicht wirklich geglaubt hatte: Donald Trump, der seine politischen Gegner als "Ungeziefer" bezeichnet – der also spricht wie ein Faschist –, dieser Donald Trump ist bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2024 der Favorit. Bei den Republikanern, seiner eigenen Partei, gibt es keine ernsthafte Konkurrenz. Und der 81-jährige Joe Biden hat sich fatalerweise entschieden, sich an seinem Amt festzuklammern, obwohl eine große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihm dieses Amt nicht für vier weitere Jahre zutraut. Das könnte dramatische Folgen haben.
Schweiz - Päng Päng Päng!
Kein Jahr im Amt, sagt der neue Schweizer Umweltminister Albert Rösti von der rechtspopulistischen SVP dem Wolf den Kampf an. Im Eilverfahren beschließt er im November, dass ganze Rudel abgeschossen werden dürfen, auch wenn sie keine Schäden angerichtet haben. Gerade mal zwölf von heute 32 Rudeln sollen überleben dürfen. Einwände der Wissenschaft, dass damit das geschützte Tier nicht überleben kann, lässt er nicht gelten. Mit seinem Entscheid spaltet Rösti das Land: Die Bergbauern und Schafzüchter sind begeistert, die Umweltorganisationen sind entsetzt und gehen juristisch gegen die Abschussbewilligungen vor. Das Resultat: Die zügellose Wolfsjagd ist vorläufig gestoppt. Doch der Schaden ist angerichtet. Röstis Schuss aus der Hüfte hat die Schweizer Wolfsdebatte, die nach jahrelangen Fehden endlich sachlich und pragmatisch geführt wurde, nachhaltig vergiftet.
Großbritannien - Gesetzlose Briten
Am meisten hat mich dieses Jahr alarmiert, dass die britische Regierung ein Gesetz erließ, welches Gerichte anordnet, bei Urteilen über die Abschiebung von Flüchtlingen Teile der Menschenrechtskonvention außer Acht zu lassen. Gerichten vorzuschreiben, welche Gesetze sie berücksichtigen dürfen und welche nicht, ist ein Angriff auf die Gewaltenteilung und die Demokratie. Was für ein Signal gibt das Vereinigte Königreich als eine der ältesten Demokratien an die Welt, wenn es nationales und internationales Recht nur noch wahlweise anerkennt?
Gaza-Stadt - Hast Du eigentlich Angst als Journalist?
In meinem Leben kommt diese Frage sehr selten vor. Aber im November, als ich am Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt stand, mit Helm und schusssicherer Weste, um mich herum die Salven aus AK47 und Maschinengewehren, nur zwei, drei Wohnblöcke entfernt und unterbrochen von dem dumpfen Einschlag israelischer Granaten aus der Luft – in diesem Moment hatte die Frage eine ganz eigene, sehr persönliche und direkte Bedeutung. Krieg fühlt sich anders an, wenn man mittendrin steht, wenn man, wie ich, sich in einen der Tunnel unter dem Krankenhaus hinabschlängelt und sich in der Dunkelheit gebückt vorantastet. Wenn man mit eigenen Augen sieht, was sonst nur in den Abendnachrichten über den Schirm flimmert. Nie war mir dieser Krieg so nah, so emotional, nie die Sicht beider Seiten so spürbar, wie an jenem Mittwochmorgen im November: hier die Israelis, waidwund und traumatisiert von dem Massaker der Hamas. Und da die Palästinenser, deren zerbombte Stadt wie die Kulisse eines apokalyptischen Kinofilms wirkte. Manchmal muss man als Reporter genau dahin gehen, wo Geschichte gemacht wird. Auch, wenn es einem Angst macht.
Ukraine - Einer verlässt den Saal
Viktor Orbán hatte vor dem EU-Gipfel im Dezember immer wieder laut sein doppeltes Nein verkündet: Nein zu Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, Nein zu 50 Milliarden Finanzhilfe an die Ukraine. Er drohte mit dem Veto. Dann aber verließ er bei der entscheidenden Abstimmung den Saal, wohl nach Aufforderung des deutschen Kanzlers. Er könne ja, so soll Olaf Scholz gesagt haben, den Raum verlassen, wenn er mit der folgenden Abstimmung ein Problem habe. Orbán folgte der Aufforderung tatsächlich, zur Überraschung aller Teilnehmer. So machte Orbán den Weg für die Ukraine frei.
Was war Ihr außenpolitischer Moment des Jahres? Schreiben Sie es uns in den Kommentaren!
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