Viele Menschen sind davon überzeugt, Ereignisse aus ihrer frühesten Kindheit wachrufen zu können. Dabei lässt sich das Gedächtnis unter bestimmten Voraussetzungen durchaus in die Irre führen. So können sogar Traumata erinnert werden, die es nie gab.
Manchmal tauchen sie scheinbar aus dem Nichts wieder auf, die verblassten Bilder aus der Kindheit: Da gab es doch diese Ballonfahrt, die man vor Jahren erlebt und scheinbar völlig vergessen hat. Plötzlich erinnert man sich wieder an den Ausblick, den Wind und die Farben des Ballons. Nur hat es dieses Ereignis nie gegeben: Die amerikanische Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus konnte in einer Studie die Hälfte ihrer Probanden dazu bringen, sich an das fiktive Ereignis zu erinnern. Dafür zeigte sie ihnen gefälschte Fotos einer Ballonfahrt, die sie angeblich in ihrer Kindheit erlebt haben.
Solche Scheinerinnerungen sind keine Seltenheit. Viele Menschen sind davon überzeugt, Ereignisse aus ihrer frühesten Kindheit wachrufen zu können. Sie berichten zum Beispiel von ihren ersten eigenen Schritten oder der Geburt eines Geschwisterkindes.
Experten gehen davon aus, dass sich Erinnerungen erst ab dem Alter von etwa dreieinhalb Jahren abrufen lassen. Durch Erzählungen der Eltern können sie jedoch verfälscht werden: „Manchmal erinnern wir uns an Ereignisse aus der Kindheit, weil uns davon erzählt oder ein Bild gezeigt wird“, erklärt Aileen Oeberst, Professorin für Psychologie von der Fernuniversität Hagen. Sie forscht seit mehreren Jahren zur menschlichen Erinnerung.
Man kann Erinnerungen nicht nur verfälschen, sondern Menschen auch dazu bringen, sich an Erlebnisse zu entsinnen, die nie stattgefunden haben – wie an die Ballonfahrt, die es nie gab. Diesen Prozess bezeichnen Forscher auch als implantierte Erinnerung.
Wie sich falsche Erinnerungen erzeugen lassen
Das allgemeine Phänomen ist schon länger bekannt. Wenn sich viele Menschen kollektiv falsch an etwas erinnern, spricht man dann vom sogenannten Mandela-Effekt; dieser geht auf die britische Autorin Fiona Broome zurück, die sich bei einer Tagung im Jahr 2010 davon überzeugt zeigte, dass der Aktivist und spätere südafrikanische Präsident Nelson Mandela längst gestorben war. Überraschenderweise pflichteten ihr einige der Tagungsteilnehmer bei und berichteten sogar, sich an Fernsehbilder seiner Beerdigung zu erinnern. Mandela starb jedoch erst 2013.
Wie leicht es möglich ist, falsche Erinnerungen zu erzeugen, untersuchten Aileen Oeberst und ihre Kollegen in einer Studie. Dafür fragten die Forscher die Eltern ihrer Studienteilnehmer nach zwei Ereignissen, die tatsächlich in der Kindheit der Probanden stattgefunden haben, und baten sie zusätzlich, zwei Erlebnisse zu erfinden. Die Studienteilnehmer wussten nur, dass es bei der Untersuchung um Kindheitserinnerungen geht.
Oeberst und ihre Kollegen stellten ihnen anschließend Fragen zu den fiktiven und den tatsächlich erlebten Ereignissen. Sie erzählten den Probanden, dass ihre Eltern von allen vier Erlebnissen berichtet hätten. Die Forscher befragten sie beispielsweise nach ihrem Verschwinden als Kind im Italienurlaub – obwohl sie als Kind nie verloren gegangen waren. Rund die Hälfte der Teilnehmer entwickelte falsche Erinnerungen und war überzeugt davon, die erfundenen Geschichten tatsächlich erlebt zu haben.
Zahlreiche weitere Studien zeigen, wie einfach falsche Erinnerungen erzeugt werden können. Ein bekanntes Beispiel ist ein Experiment der deutsch-kanadischen Kriminalpsychologin Julia Shaw. Sie überzeugte viele ihrer Studienteilnehmer davon, in ihrer frühen Jugend eine Straftat begangen zu haben und sogar mit der Polizei in Konflikt geraten zu sein. Die Teilnehmer gingen davon aus, es ginge in der Studie darum, verschüttete Erinnerungen wieder hervorzuholen. Um die Probanden von der fiktiven Straftat zu überzeugen, ließ Shaw deren Eltern von dem Ereignis berichten. Mehr als ein Viertel glaubte danach, die Tat tatsächlich begangen zu haben. Wie kann das sein?
„Wir können nicht einfach den Film zurückspulen“
„Es scheint gewisse notwendige Voraussetzungen geben zu müssen, damit jemand eine falsche Erinnerung entwickelt“, erklärt Aileen Oeberst. Wichtig sei, dass eine glaubwürdige Person von dem angeblichen Ereignis berichte. Außerdem brauche es eine Erklärung dafür, warum man sich nicht mehr an die Situation erinnert: „In unserer Studie haben die Eltern der Probanden ihnen von den fiktiven Erlebnissen berichtet“; Eltern gälten in der Regel als vertrauenswürdige Personen. „Zudem fragten wir nach Ereignissen aus der Kindheit – einer Zeit, aus der wir vieles vergessen oder nur bruchstückartig erinnern. Deshalb tendieren wir dazu, eher der Erinnerung unserer Eltern als unserer eigenen zu vertrauen“, so die Forscherin.
Oeberst merkt außerdem an, dass sie und ihr Team als Wissenschaftler als seriös gälten und ihnen zunächst nicht unterstellt werde, jemanden belügen zu wollen. Diese Faktoren hätten dazu geführt, dass viele Probanden die fiktiven Geschichten geglaubt hätten. „An falsche Erinnerungen zu glauben ist eine Frage der konkreten Situation. Ich glaube, niemand ist davor gefeit.“
Unser Gedächtnis funktioniere nicht wie eine Videokamera: „Wir können nicht einfach den Film zurückspulen und von vorn abspielen“, erläutert Aileen Oeberst. Unsere Erinnerung sei keine Reproduktion, sondern eine Rekonstruktion von Erlebnissen. Das menschliche Gedächtnis setze sich aus verschiedenen Quellen zusammen: „Dazu zählen Ereignisse, die wir selbst erlebt haben, Erzählungen, die wir beispielsweise von unseren Eltern gehört oder Filmszenen, die wir mal gesehen haben.“ Lücken in unserer Erinnerung würden dann mit Informationen aus all diesen Quellen gefüllt. Deshalb könne man nach einiger Zeit häufig nur noch schwer feststellen, woher eine Erinnerung stammt – ob man sie etwa aus einer Erzählung oder einem Film hat.
Die Debatte über falsche Erinnerungen geht weit über harmlose Anekdoten aus der Kindheit hinaus: In den 1990er-Jahren berichteten einige Medien über Missbrauchsfälle, die nie stattgefunden haben. Ein bekannter Fall war der „Montessori-Prozess“ in Münster. Einem Kindergartenerzieher wurde vorgeworfen, mehr als 60 Kinder sexuell missbraucht zu haben. Durch Suggestivfragen hatte man die Kinder dazu gebracht, sich an angebliche Vorfälle zu erinnern.
Können Traumata verdrängt werden?
Die Frage, ob man ein eine traumatische Erfahrung wie sexuellen Missbrauch tatsächlich verdrängen und sich durch beharrliches Nachfragen in einer Therapie wieder erinnern kann, spaltet die psychologische Forschung. Die Debatte wurde so leidenschaftlich geführt, dass sie als „Memory Wars“ in die Forschungsliteratur einging. Manche Wissenschaftler, wie der Traumaforscher Chris Brewin vom University College London, sind überzeugt, dass traumatische Ereignisse in manchen Fällen vollständig vergessen und später wieder erinnert werden können. Eine Therapie könne das Gedächtnis aktivieren und die Erinnerung wieder hervorholen, auch ohne Suggestivtechniken, so Brewin.
Andere sind vom Gegenteil überzeugt: „Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass man traumatische Erlebnisse verdrängen kann“, erklärt Aileen Oeberst. An stark emotionale Ereignisse, die uns selbst betreffen, würden wir uns sogar besonders gut erinnern. Menschen, die Traumatisches erlebt haben, würden vielmehr häufig darunter leiden, das Erlebte nur schwer wieder vergessen zu können.
Der Glaube an das Konzept der Verdrängung traumatischer Erfahrungen, das auf Siegmund Freud zurückgeht, sei in der Bevölkerung jedoch noch weit verbreitet. In vulnerablen Situationen wie einer Psychotherapie bestehe deshalb die Gefahr, dass sich – ob vom Therapeuten gewollt oder nicht – Patienten an traumatische Erlebnisse aus der Kindheit erinnerten, die es nie gab. Denn Patienten suchten oftmals in der Zeit ihrer Kindheit nach Erklärungen für ihre aktuellen Probleme. „Wenn Patient und Therapeut an die Verdrängung von Traumata glauben, kann ein bisher unbekanntes verdrängtes Kindheitstrauma nach einer plausiblen Erklärung für ein Leiden klingen, das sich der Patient selbst nicht erklären kann“, so die Forscherin.
Scheinerinnerungen sind schwer aufzulösen
Sind falsche Erinnerungen erstmal implantiert, kann es schwierig sein, sie zu entlarven und wieder aufzulösen, weiß Aileen Oeberst. Denn Scheinerinnerungen lassen sich nur schwer von Erinnerungen an reale Erlebnisse unterscheiden. In ihrer Studie wurde den Probanden am Schluss erklärt, wie Erinnerung entsteht und wie sie verfälscht werden kann. Um die falschen Erinnerungen wieder aufzulösen, sollten sich die Versuchsteilnehmer darauf konzentrieren, welche der Erinnerungen tatsächlich auf ihren persönlichen Erfahrungen beruhten. „Aber auch in dieser Situation funktioniert das Gedächtnis nicht wie ein Videorekorder: Die falsche Erinnerung lässt sich nicht einfach wieder löschen.“
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