Und fünf Gründe, warum nicht
Vergleiche mit Roms Untergang haben Konjunktur. Übersehen wird, dass im Jahr 476 zwar der letzte Kaiser des Westens abgesetzt wurde. Im Osten aber konnte sich Byzanz noch über Jahrhunderte als Grossmacht halten.
Nach dem Untergang Westroms verstand sich Byzanz als Erbe des Imperiums. Bis ins 12. Jahrhundert war der Kaiserstaat die führende Macht zwischen Europa und Asien.
Derzeit ist wieder erstaunlich oft vom Römischen Reich die Rede. Das hat allerdings nichts mit einer Renaissance der humanistischen Bildung zu tun, sondern mit dem unbestimmten Déjà-vu, dass die Krisen und Konflikte der Gegenwart in ihrer Häufung irgendwie an das Imperium der Antike erinnern, das für die Ewigkeit gebaut schien und doch im Jahr 476 von einem germanischen Söldnerführer in die Geschichte entsorgt wurde.
Beim bangen Blick in diesen fernen Spiegel wird allerdings übersehen, dass das Römische Reich Ende des 5. Jahrhunderts keineswegs untergegangen ist, sondern allenfalls sein westlicher Teil. In der östlichen Reichshälfte regierte weiterhin ein Kaiser, dessen Reich von der Donau bis an den Nil reichte und von Justinian I. bis 565 um Italien und Teile Afrikas und Spaniens erweitert wurde. Über Jahrhunderte hinweg war es der am besten organisierte Staat der mediterranen Welt. Zwar sprachen seine Bewohner Griechisch und gehörten der orthodoxen Kirche an. Aber bis zu seinem Untergang 1453 nannten sie sich „Romaioi“, Römer.
Wie die aktuellen Rom-Apokalypsen zeigen, ist Byzanz, wie Ostrom seit dem Ausgang der Antike in der Regel genannt wird, aus dem Blickfeld Europas weitgehend verschwunden – was im Übrigen einiges über den modischen Anspruch aussagt, die eurozentrische Perspektive auf die Geschichte aufzugeben. Da kommt das neue Buch der Historikers Johannes Preiser-Kapeller „Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters“ gerade recht.
Als Band der neuen „Geschichte der Antike“-Reihe (Beck-Verlag) beschliesst er ein Projekt, das man gar nicht genug rühmen kann. Denn mit ihm hat Stefan von der Lahr, der scheidende Altertums-Lektor des Münchner Hauses, eine feine Summe seines Wirkens vorgelegt, verbindet die Reihe doch den aktuellen Stand der Wissenschaft mit eleganter, verständlicher und zugleich geraffter Darstellung. Besser lässt sich die Geschichte des griechisch-römischen Altertums nicht erzählen.
Dem oströmischen Kaiser Justinian I. (482–565) gelang es, das Reich der Vandalen in Afrika und das der Goten in Italien zu erobern. Preiser-Kapeller, der an Universität und Akademie der Wissenschaften in Wien lehrt und forscht, setzt da einen glänzenden Schlusspunkt. Nicht nur, dass er die ziemlich komplizierte Geschichte des „Romiosini“, des Römertums im Osten, in seiner ganzen Farbigkeit präsentiert. Er schlägt auch Schneisen durch die zahlreichen Details, indem er sich wiederholt der Frage stellt, „warum das Römerreich nicht unterging“.
Fünf Gründe fallen hier ins Auge...
1. Wirtschaftskraft
Nachdem sein Reichsheer 378 bei Adrianopel von den Goten vernichtet worden war, schien der Fall Ostroms nur eine Frage der Zeit zu sein. Dass es ihm dennoch binnen weniger Jahre gelang, die Barbaren nach Westen abzudrängen und zugleich die Mittel aufzubringen, gegen das Großreich der persischen Sasaniden zu bestehen, verdankte die Regierung in Konstantinopel den Ressourcen Ägyptens, Syriens und Kleinasiens und seinen zahlreichen Städten, die den Zugriff auf Menschen und Steuern ermöglichten. Im Westen dagegen schwand mit der Landnahme germanischer Gruppen die Loyalität vieler Grossgrundbesitzer gegenüber Rom und damit die erprobte Integrationskraft des westlichen Imperiums.
Mit Geld und anderen Mitteln liessen sich dagegen in der östlichen Reichshälfte nicht nur Heere und Flotten finanzieren, sondern sie waren auch kräftige Hebel der Diplomatie. So konnte Ostrom wiederholt seine Feinde gegeneinander ausspielen und neue Verbündete gewinnen. Um etwa die Awaren, aus Asien stammende Reiternomaden, ruhig zu halten, warf Kaiser Herakleios 623 einen jährlichen Tribut über 200.000 Solidi, fast eine Tonne Gold, in die Waagschale. Erst die Eroberungszüge der Muslime ab den 630er-Jahren entzogen Konstantinopel die Reichtümer des Orients. Doch bis dahin hatten seine Beamten und Generäle von ihren Gegnern gelernt, sich gegen eine Übermacht zu verteidigen.
2. Lernfähigkeit
Johannes Preiser-Kapeller zitiert aus dem „Strategikon“ des Kaisers Maurikios, einem Militärhandbuch aus dem 6. Jahrhundert. Darin wird nicht nur der Umgang mit fremdstämmigen Söldnern beschrieben, sondern auch ihr Einsatz in kleinen, hoch mobilen Expeditionskorps von 5000 bis 20.000 Soldaten. Von den Persern wurden Innovationen wie die schwere Reiterei, von den Awaren Pferdepanzer und Steigbügel übernommen.
Um die eindringenden Slawen in ihren waldigen unzugänglichen Heimatgebieten zu fassen, riet der Autor des „Strategikons“, „Unternehmungen gegen sie eher im Winter zu eröffnen, wenn sie sich wegen der entlaubten Bäume nicht verstecken können“. Dann zeige „auch der Schnee die Spuren der Flüchtigen“, und „die Flüsse sind durch das Eis leicht passierbar“. Byzanz verharrte nicht in rückwärtsgewandtem Konservatismus, sondern zog wegweisende Schlüsse aus seiner sich wandelnden Umwelt und entwickelte Konzepte, sich darin zu behaupten.
3. Wunderwaffen
Das gilt auch für die technische Entwicklung. In seinem Kapitel „Glaubensstreit und Wunderwaffen“ erklärt Preiser-Kapeller die berühmteste Geheimwaffe der Byzantiner: das „Griechische Feuer“. Seine Erfindung wird einem syrischen Architekten mit Namen Kallinikos zugeschrieben, der sich während der Belagerung Konstantinopels durch die Araber 674–78 in die Hauptstadt geschlichen haben soll.
Da das Geheimnis dieses „Seefeuers“ verloren gegangen ist, haben moderne Tüftler mit Erdöl-Mischungen experimentiert. Die Substanz wurde wohl erhitzt, unter Druck gesetzt und durch Rohre hinausgepresst und brannte sogar auf dem Wasser. Allerdings neigte die Masse zur Explosion und konnte nur bei ruhiger See und auf kurze Distanz eingesetzt werden.
Sein Jahrhunderte langes Überleben verdankte Byzanz vor allem einem Erbe der Antike: den Befestigungsanlagen Konstantinopels. An der Landseite bestanden sie aus einem sieben Kilometer langen, dreifachen Verteidigungsring. Zusammen mit der 13 Kilometer langen Seemauer „war dies die mächtigste Befestigungsanlage der Mittelmeerwelt und mit antiken oder mittelalterlichen belagerungstechnischen Mitteln nur schwer einzunehmen“, schreibt der Byzantinist. Ganze Armeen sind vor der Stadt verblutet. Ihre erfolgreiche Erstürmung durch die Ritter des Vierten Kreuzzuges 1204 erklärt sich durch Uneinigkeit der Verteidiger. Erst der Einsatz schwerer Geschütze ermöglichte es 1453 den Osmanen, die Mauern sturmreif zu schiessen.
4. Verwaltung
Lange haben Historiker darüber gestritten, wann die Provinzen des Reiches als sogenannte „Themen“ organisiert wurden. Dabei handelt es sich um Verwaltungsbezirke, in denen wohl ab dem 9. Jahrhundert die militärische und politische Macht in den Händen eines „Strategen“ lag, was die Schlagkraft enorm erhöhte. Seine Soldaten erhielten Landgüter, auf denen sie ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten und die vererbt werden konnten. Im Kriegsfall bildeten diese Bauernsoldaten eine schnell mobilisierbare und schlagkräftige Truppe.
Anders als im Westrom der Spätantike gelang es den Kaisern, ihre in den „Themen“ lebenden Untertanen weiterhin eng an die Zentrale zu binden. In den Abwehrkämpfen gegen Araber, Slawen, Bulgaren und asiatische Reitervölker erwiesen sich die Themen-Korps als schlagkräftige und loyale Verbände. Jedoch konnten manche Generäle der Versuchung nicht widerstehen und griffen nach dem kaiserlichen Purpur. Je mehr aber Konstantinopel ab dem 10. Jahrhundert wieder in die Offensive ging, gelang es Großgrundbesitzern, viele Soldatengüter einzuziehen, was die Kampfkraft der Armee auf die Dauer schwächen sollte. Immerhin vermochten es die Kaiser im 11. Jahrhundert, Byzanz als Großmacht zu etablieren, die von Süditalien bis nach Syrien reichte.
5. Seeherrschaft
Da die grossen Binnenräume in der Levante, Italien und auf dem Balkan ab dem 7. Jahrhundert Opfer von Invasoren geworden waren, musste die Flotte die Verbindungen zwischen Konstantinopel und den Aussenbesitzungen sichern. Das gelang ihr mit der „Dromone“, einem schnellen Ruderschiff, das nach dem Vorbild der leichten Liburne aus augusteischen Zeiten entwickelt worden war. Ihr „lateinisches Segel“ erlaubte es, am Wind zu kreuzen. Ausgerüstet mit bronzenen Siphonen, wie die Geschütze des „Griechischen Feuers“ genannt wurden, haben die kaiserlichen Admiräle ganze muslimische Flotten vernichtet.
Der Historiker zitiert das „Buch der Tiere“ des arabischen Gelehrten Amr ibn Bahr al-Gahiz: Das Dromedar, das wichtigste Tragtier der arabischen Armeen, ging im „Land von Rum“ wegen der Kälte ein. Erst die türkischen Eroberer des 11. Jahrhunderts führten mit dem zentralasiatischen Trampeltier ein Kamel mit sich, dem die klimatischen Bedingungen Anatoliens nichts ausmachten. Solche Beobachtungen machen Preiser-Kapellers „Byzanz“ auch zu einer wunderbaren Fundgrube.
6. Pandemien
Weitere Möglichkeiten stecken im Klimawandel; damals schon: Sehen Sie hier einen sehr interessanten Artikel von Spektrum hierzu, dass Pandemien ein weiterer Grund für den Untergang der Heiligen Römischen Reiches sein könnte.
Naja, Fakt ist: Grosse Reiche sind stets historisch geboren worden, hatten immer auch ihre Krisen und goldenen Zeiten und gingen alle wieder unter. Hoffentlich erwischt's unser Europa nicht auch alsbald...wäre doch schade um die grossartige Vision, oder?
Johannes Preiser-Kapeller: „Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters“. (C. H. Beck, München. 352 S., 22 Euro), geschr.v. Berthold Seewald
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